Wiederholt sich die Tragödie Mitteleuropas?

CENTRAL Network sprach mit Botschafter Emil Brix über die Beziehungen zwischen Mitteleuropa und Russland und welche Möglichkeiten der Zusammenarbeit es nach dem Krieg gegen die Ukraine noch geben kann. Botschafter Brix wird auch eine keynote speech bei der Podiumsdiskussion War in Ukraine: a turning point for the relationship between Central Europe and Russia? am 2. Juni halten.

Herr Botschafter Brix, der 24. Februar 2022 markierte einen Wechsel der Beziehungen Europas zu Russland. Davor gab es eine Zeit der wirtschaftlichen Integration und die Hoffnung auf friedvolle, gedeihliche Nachbarschaft. Diese Hoffnung scheint zerstört. Wie schätzen Sie die Weiterentwicklung der Beziehungen Europas zu Russland ein?

Der 24. Februar ist ein tiefer Einschnitt in die Beziehungen zwischen Europa und Russland. Und zwar deshalb, weil hier tatsächlich die Hoffnung zerstört wurde, dass wir durch die enge Kooperation – der Universitäten, der Zivilgesellschaft, aber auch der Wirtschaftspartner – zu einem vernünftigen Verhältnis kommen können zwischen Russland und Europa. Der Angriffskrieg ist ein Beweis dafür, dass eine Seite das nicht möchte. Und daher muss man davon ausgehen, dass hier eine ziemlich undurchdringliche neue Mauer in Europa entsteht zwischen Russland und dem Rest Europas.

Und dazu gehört auch die Frage: was bedeutet das für Mitteleuropa, für die Staaten, die relativ junge Mitglieder der Europäischen Union sind, die lange Jahrzehnte der Erfahrung mit dem Kommunismus, mit der Sowjetunion gemacht haben? Inwieweit sind diese Länder jetzt eine Region in Europa geworden, die uns einerseits helfen kann zu verstehen, was vor sich geht und auf der anderen Seite tatsächlich bei der Verteidigung dessen, was europäische Werte sind?

Abgesehen von Mittel- und Osteuropa: Sie waren als Diplomat auch in Russland stationiert, können sie daher einschätzen, was es letztendlich auch für Russland bedeutet?

Der Krieg ist genauso für die russische Seite ein tiefer Einschnitt. Es ist zu erwarten, dass das Ergebnis dieses Krieges ein schwaches, isoliertes Russland sein wird. Sowohl was Politik betrifft, was die Wirtschaft betrifft, aber auch was die Kontakte im kulturellen Bereich, im wissenschaftlichen Bereich betrifft. Zwar versuchen viele die Kontakte soweit als möglich aufrecht zu erhalten – zu Recht soweit sie nicht politisch gelenkt sind – aber das wird nur zum Teil gelingen und es ist zu erwarten, dass wir mit einem noch stärkeren Nationalismus auf russischer Seite rechnen müssen. Die Führung im Kreml in Moskau hat sich entschieden auf diese Karte zu setzen: Isolation, militärische Stärke und starke Kontrolle der eigenen Bevölkerung. Und nimmt scheinbar in Kauf, dass das insgesamt für die russische Bevölkerung Nachteile bringen wird.

Was treibt Russland an, und sind das offizielle Russland und die russische Bevölkerung da auf einer Linie?

Schon seit Jahren gibt es ja eigentlich nur noch die offizielle Darstellung dessen, was Russland antreibt, was seine Interessen sind. Alles was man unter Zivilgesellschaft versteht, ist in den letzten Jahren systematisch abgebaut und verboten worden. Wenn Sie mich fragen, wie das die offizielle Führung argumentiert, dann sieht man den Westen als ideologischen Feind an, der alles, was an traditionellen Werten besteht, nicht mehr hochhält. Und das offizielle Russland inszeniert sich selbst als Bewahrer von traditionellen Werten – Familie, Religion, Geschlechterrollen – und das wird von einer Mehrheit der russischen Bevölkerung, da sind die Umfragen recht eindeutig, derzeit mitgetragen.

Aber diese starke Konzentration auf eine ‚andere Zivilisation‘, ein anderes Weltbild ist sicher nicht unbestritten in Russland. Dafür ist seit der Sowjetunion zu viel an Modernisierung, an Öffnung, an wissenschaftlichen Kontakten geschehen. Es sind zwar viele Menschen im Umfeld des 24. Februar emigriert, aber viele sind auch noch da. Die müssen auch um nicht selbst gefährdet zu werden jetzt ein bisschen in Ruhestellung warten, was man öffentlich tun kann. Aber hier haben wir Möglichkeiten, auf beiden Seiten weiterhin zusammenzuarbeiten. Gerade die Wissenschaft, gerade die Kultur ist dafür prädestiniert das zu machen. Langfristig brauchen wir diesen Kontakt – aus historischen, kulturellen, geographischen und menschlichen Gründen.

Das heißt, diese Forderungen nach Abbruch akademischer Beziehungen, nach Ausladung russischer Kulturschaffender, ist eigentlich der falsche Weg und diese Kanäle sollten weiterhin offen bleiben?

Die Kontakte auf kultureller und wissenschaftlicher Ebene sollten wir größtmöglich aufrechterhalten. Allerdings sicher nicht mit jenen, die sich ausdrücklich und seit langem mit der Politik des Kreml solidarisiert haben. Da bin ich sehr dafür, dass wir hier auch klar Position beziehen. Das haben eigentlich auch alle in Europa gemacht. Selbst wir als Diplomatische Akademie haben den offiziellen Kontakt mit der führenden russischen Akademie suspendiert. Aber wir haben die russischen Studenten nicht heimgeschickt.

Europa hat sich sehr rasch und überraschend einig gezeigt in der Unterstützung der Ukraine. Aber es gibt jetzt auch Bruchstellen, selbst unter den Visegrád Staaten gibt es ja Uneinigkeit. Sehen Sie die Gefahr einer Spaltung durch diese Bruchlinien?

Ich würde es positiv formulieren: es ist eigentlich ein Wunder, dass wir es bisher geschafft haben, mit relativ wenig Diskussionen tiefgreifende Sanktionspakete gegen Russland, gegen diesen Krieg auf den Weg zu bringen. Es ist ein wirkliches Wunder, dass es gelungen ist, Waffenfinanzierung durch einen Beschluss in der Europäischen Union durchzubringen. Also hier gibt es sehr viel Positives. Ich denke, der in den letzten Jahren sehr negative Blick auf Polen zum Beispiel ändert sich dadurch, wenn man sieht, wie sie mit Flüchtlingen aus der Ukraine umgehen. Oder denken Sie an Litauen. Der erste europäische Staat, der die Energieabhängigkeit von russischem Öl und Gas nicht nur erkannt hat, sondern auch etwas getan hat, indem sie 2014 ein LNG Terminal errichtet haben, um genau diese Alternative zum russischen Gas zu haben und heute sind sie damit ein Vorbild. Und das ist ein mitteleuropäischer Staat, der das gemacht hat, nicht einer der reichen westeuropäischen Staaten. Das heißt es gibt sehr viele positive Beiträge, die Staaten aus der mitteleuropäischen Situation in dieser gefährlichen Situation leisten.

Gleichzeitig haben wir aber auch mitteleuropäische Staaten, die – teilweise auch nur aus wirtschaftlichen Überlegungen heraus – eher auf die Bremse treten.

In einem Ausnahmezustand wie es dieser Krieg für eine Region wie Mitteleuropa darstellt, ist es sehr verständlich, dass man zunächst einmal seine nationale Situation ansieht. In Österreich sagen wir: Versorgungssicherheit was Energiefragen betrifft, ist das wichtigste. Die Ungarn sagen, die nationale patriotische Geschlossenheit darf nicht gefährdet werden und wir müssen auf unsere Minderheiten in der Ukraine schauen. So hat jeder der mitteleuropäischen Staaten eine unmittelbare Betroffenheit, die großteils stärker ist als die, die Portugal, Spanien oder Frankreich haben. Das heißt, da muss man verstehen, dass die Situation wirklich anders ist. Ich glaube nicht, dass im Moment im politischen Meinungsklima eine destruktive Rolle der mitteleuropäischen Region gesehen wird. Ich glaube im Gegenteil, dass man jetzt beginnt zu verstehen, was denn eigentlich die historische Erfahrung dieser Mitteleuropäer bedeutet, die jahrzehntelang großteils unter sowjetischem Joch waren. Weil das bedeutet ja nicht, dass man sich nur symbolisch irgendwie nach Osten orientieren musste, sondern dass man sich mit Pipelines und anderer Energieversorgung in diese Richtung orientieren und abhängig machen musste. Das war ja in vielen Staaten keine freiwillige Entscheidung.

Und ich halte es für einen positiven Beitrag für die europäische Solidarität, dass sich diese mitteleuropäischen Staaten jetzt viel intensiver mit der Frage auseinandersetzen müssen, wie sie zwischen Westen und Osten stehen.

Das heißt, die Situation bietet auch eine Chance?

Absolut auch eine Chance. Ich nenne meinen Vortrag in der kommenden Panel Discussion deshalb ‚Is Russia again the tragedy of Central Europe?‘, weil dieser Titel von einem Essay von Milan Kundera von 1984 ist. Und da beschreibt er zwar, wie gefährlich Russland sein kann, aber es geht ihm letztendlich gar nicht um Russland, sondern es geht ihm darum, dass auf der europäischen Seite niemand mehr bereit ist, sich für europäische Werte einzusetzen. Dass die Mitteleuropäer über Europa reden, v.a. die Dissidenten vor Ende der Sowjetunion, während in (West, Anm.) Europa nicht mehr über diese europäischen Werte gesprochen wird.

Wie schätzen Sie das ein? Was bräuchte es, damit diese Diskussionen zur mitteleuropäische Sicht auf europäische Werte funktioniert? Benötigen wir dafür eine Europäisierung der Medienöffentlichkeit, damit man viel breiter weiß, was aktuell jeweils in Prag, Budapest und Wien diskutiert wird?

Wenn wir weiter kommen wollen in der Europadiskussion, dann gibt’s ja im Wesentlichen drei Punkte: haben wir ein europäisches Volk, das sich auch entsprechend durch repräsentative Wahlen äußern kann? Da sind wir noch nicht sehr am Weg dahin. Haben wir eine gemeinsame Kommunikationsebene in Europa? Dass in Brüssel alles in alle Amtssprachen übersetzt wird, reicht halt nicht. Und dass es praktisch keine europaweiten Zeitungen gibt, reicht eben auch nicht. Die Sozialen Medien sind da eine gewisse Chance, trotz aller negativen Folgen, weil sie in der Regel nicht national beschränkt sind. Und das Dritte ist die Sicherheitskomponente: die Diskussion um eine Europäische Armee muss angesprochen werden.  Das ist eine Frage der europäischen geopolitischen Souveränität. Aber auch dieser dritte große Bereich ist erst am Beginn. Daher ist meine ganz persönliche Einschätzung: wir sollten unbedingt möglichst rasch der Ukraine den Beitrittskandidatenstatus (Anm. zur EU) geben, das wäre ein starkes europäisches Zeichen.

Herr Botschafter Brix, vielen Dank für das Gespräch und wir freuen uns schon auf Ihre Keynote am 2. Juni.

 Podiumsdiskussion

War in Ukraine: a turning point for the relationship between Central Europe and Russia?

02.06.2022

16:30 - 18:30

Sky Lounge, Oskar-Morgenstern-Platz 1,1090 Wien

Photo of the ambassador Emil Brix

Botschafter Emil Brix

Dr. Emil Brix, geboren 1956 in Wien, Diplomat und Historiker, ist seit 2017 Direktor der Diplomatischen Akademie Wien - Vienna School of International Studies. Nach seinem Eintritt in den österreichischen diplomatischen Dienst im Jahr 1982 war Herr Brix als politischer Sekretär für die Fraktion der Österreichischen Volkspartei tätig. Im Jahr 1986 wurde er zum Kabinettschef im Ministerium für Wissenschaft und Forschung ernannt. Von 1990 bis 1995 war er als österreichischer Generalkonsul in Krakau, Polen, tätig. Anschließend war er vier Jahre lang Direktor des Österreichischen Kulturinstituts in London. Im Jahr 2002 wurde Brix zum Generaldirektor für Auswärtige Kulturpolitik im österreichischen Ministerium für europäische und internationale Angelegenheiten ernannt. Nachdem er von 2010 bis 15 fünf Jahre lang als österreichischer Botschafter im Vereinigten Königreich tätig war, wurde er 2015 österreichischer Botschafter in der Russischen Föderation. Er ist stellvertretender Vorsitzender des Instituts für den Donauraum und Mitteleuropa und Mitglied des Vorstands der Österreichischen Forschungsgemeinschaft. Er hat an der Universität Wien promoviert und wurde von der Universität Drohobytsch, Ukraine, und der Universität Cluj-Napoca, Rumänien, zum Dr. hc. promoviert. Er ist Alumnus der Diplomatischen Akademie Wien und veröffentlichte zahlreiche Bücher und Artikel zur österreichischen und europäischen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts.